Die Geiseln
Die israelischen Sportlerinnen und Sportler genossen das olympische Treiben in München, bis am 5. September zwei von ihnen erschossen und neun weitere zunächst als Geiseln genommen und später ebenfalls ermordet wurden. Welche Bedeutung hatte die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Deutschland für die Mitglieder der israelischen Delegation? Wie verliefen die Tage bis zur Geiselnahme? Wie reagierten die israelischen Sportler auf das Eindringen des palästinensischen Kommandos? In welcher Ausnahmesituation befanden sich die Geiseln im weiteren Verlauf der Geiselnahme bis zu ihrem Tod?
Der Traum von Olympia 1972 in München
15 israelische Athletinnen und Athleten konnten sich für die Olympischen Spiele in München qualifizieren. Gemeinsam mit ihren Trainern bereiteten sie sich auf die Wettkämpfe vor.
Die Mitglieder der israelischen Mannschaft stammten aus verschiedenen Ländern und waren zum Teil erst wenige Jahre oder Monate zuvor nach Israel gekommen. Einige von ihnen hatten kurz vor den Olympischen Spielen die israelische Staatsangehörigkeit angenommen, um an den Olympischen Spielen teilnehmen zu können ‒ der Höhepunkt einer jeden sportlichen Karriere.
Die Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, mag nicht für alle Mitglieder der israelischen Delegation leicht gewesen sein. Einige von ihnen waren dem Nationalsozialismus nur knapp entkommen, viele ihrer Angehörigen hatten die Shoah nicht überlebt.
Die Ankunft der israelischen Sportlerinnen und Sportler in München
Wenige Tage vor dem Beginn der Olympischen Spiele reisten die 27 Mitglieder der israelischen Delegation nach München. Zuvor hatte es im Ausland zahlreiche Anschläge auf israelische Einrichtungen und israelische Staatsbürgerinnen und -bürger gegeben. Dennoch gab es keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen für das israelische Team. Ein Großteil der israelischen Sportler bezog Appartements in der Connollystraße 31 im Olympischen Dorf; die Athletinnen waren in einiger Entfernung untergebracht. Mehrfach äußerten Delegationsmitglieder Bedenken hinsichtlich der Sicherheit, da Teile der Appartements im Erdgeschoss lagen. Einzelne Sportlerinnen und Sportler befürchteten Anschläge, gingen jedoch davon aus, dass die zuständigen Sicherheitsbehörden entsprechende Vorkehrungen getroffen hätten.
Die israelische Delegation bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele
Am 26. August 1972 wurden die XX. Olympischen Spiele in München feierlich eröffnet. Athletinnen und Athleten aus 121 Nationen ‒ und damit so viele wie noch nie ‒ zogen in das neu gebaute Olympiastadion ein. Der Sportschütze Henry Hershkovitz führte mit der blau-weißen Fahne Israels die 27 Mitglieder der israelischen Delegation an.
Ich war schrecklich stolz darauf, dass Juden ihre Fahne auf deutschem Boden hissen können. [...] Das ist der Beweis dafür, dass die Nazis es nicht geschafft haben, den jüdischen Geist zu brechen, den israelischen Geist zu brechen.”
Wie der israelische Geheimdienst die Olympia-Mörder von München jagte. 2. Aufl. München, S. 35
Einen Tag zuvor hatte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau eine Gedenkfeier für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus stattgefunden. Hershkowitz und viele andere israelischen Sportlerinnen und Sportler nahmen teil. Nur wenige Tage später wurde Hershkowitz Zeuge, wie ein palästinensisches Kommando zwei seiner Kameraden tötete und neun andere als Geiseln nahm.
Erste Wettkämpfe der israelischen Sportlerinnen und Sportler
Zunächst jedoch starteten die „heiteren Spiele” wie geplant. Die israelischen Sportlerinnen und Sportler traten in verschiedenen Disziplinen an: In den Wettkämpfen der Gewichtheber schied David Berger früh aus. Ze’ev Friedman erreichte den zwölften Platz in seiner Gewichtsklasse. Yossef Romano musste aufgrund eines Sehnenrisses vorzeitig seinen Wettkampf abbrechen. Yakov Springer begleitete die Wettkämpfe der Gewichtheber als Kampfrichter. Der Ringer Eliezer Halfin erreichte die Gruppenphase; sein Kollege Gad Tsabari belegte den zwölften Platz. Mark Slavin bereitete sich, unterstützt von Trainer Moshe Weinberg, auf seinen ersten Wettkampf im Ringen am 5. September vor.
Yossef Gutfreund nahm als Kampfrichter der Ringer an den Olympischen Spielen teil. Henry Hershkovitz und Zelig Shtorch traten als Sportschützen an, betreut von ihrem Trainer Kehat Schor. Die Läuferin Esther Shahamorov konnte sich mit der Unterstützung ihres Trainers Amitzur Shapira für das Halbfinale im Hürdenlauf qualifizieren. Shaul Ladany belegte in der Disziplin 50-Km-Gehen den 19. Platz. Die Fechter Dan Alon und Yehuda Weinstain erreichten jeweils das Achtelfinale, ihr Trainer Andrei Spitzer begleitete sie. Die Schwimmerin Shlomit Nir trat in zwei Distanzen an. Die Segler Yair Michaeli und Itzhak Nir nahmen an den Wettkämpfen in Kiel teil.
Der Abend vor der Geiselnahme
Den Vorabend des 5. September verbrachten die meisten israelischen Sportlerinnen und Sportler in der Münchner Innenstadt. Im Deutschen Theater hatten sie das Musical „Anatevka“ gesehen und während der Pause ein Gruppenfoto mit dem bekannten israelischen Schauspieler Shmuel Rodensky gemacht.
Es sollte die letzte gemeinsame Aufnahme der israelischen Delegation sein. Kurz nach Mitternacht fuhren die Sportlerinnen und Sportler zurück ins Olympische Dorf und gingen zu Bett. Der Trainer der Ringer, Moshe Weinberg, hatte noch Freunde getroffen und kehrte erst nach 3 Uhr morgens in die Connollystraße 31 zurück. Kurze Zeit später wurden die israelischen Trainer und Schiedsrichter, die im Appartement 1 untergebracht waren, von Geräuschen geweckt.
Geiselnahme in der
Connollystraße
Das palästinensische Kommando versuchte, sich Zugang zum Appartement zu verschaffen. Der Ringkampfrichter Yossef Gutfreund erkannte die Gefahr sofort und versuchte, die Tür zuzudrücken, um seinen Kameraden die Flucht zu ermöglichen. In diesen wenigen Sekunden gelang es dem Trainer der Gewichtheber, Tuvia Sokolsky, durch eines der hinteren Fenster zu entkommen. Die Palästinenser überwältigten Gutfreund und brachten ihn und die fünf anderen Sportler, die sich im Appartement 1 befanden, in ein Schlafzimmer im ersten Stock.
Die Männer des „Schwarzen September“ fesselten die Sportler und drangen dann in das Appartement 3 ein, in dem die israelischen Ringer und Gewichtheber schliefen. Auch sie wurden von den Palästinensern überwältigt und zu den anderen Geiseln ins Appartement 1 gebracht. Die schwer bewaffneten Geiselnehmer schossen auf jeden, der sich ihren Anweisungen widersetzte oder versuchte, Widerstand zu leisten. Moshe Weinberg starb durch die Schüsse der Geiselnehmer. Yossef Romano kämpfte mit seinen Verletzungen, bevor er ihnen vor den Augen seiner Kameraden erlag.
Die Situation im Appartement
Die neun Sportler Yossef Gutfreund, Kehat Schor, Amitzur Shapira, Yakov Springer, Mark Slavin, Andrei Spitzer, Eliezer Halfin, Ze’ev Friedman und David Berger waren der Gewalt ihrer Geiselnehmer ausgeliefert. Je vier von ihnen saßen mit gefesselten Händen und Füßen auf den beiden im Raum aufgestellten Betten, einer saß gefesselt auf einem Stuhl. Von bewaffneten Kommando-Mitgliedern bewacht, mussten sie über Stunden hinweg in dem Schlafzimmer im ersten Stock ausharren, die Leiche ihres Kameraden Yossef Romano vor sich liegend. Draußen vor der Connollystraße 31 verhandelte Issa, der Anführer der Geiselnehmer, mit dem Krisenstab. Am späten Nachmittag durften Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher und Walther Tröger, der Bürgermeister des Olympischen Dorfes, das Zimmer betreten. Genscher fragte die israelischen Sportler, ob sie damit einverstanden wären, mit ihren Geiselnehmern nach Kairo ausgeflogen zu werden. Sie stimmten zu.
Der Transport der Geiselnehmer und Geiseln nach Fürstenfeldbruck
Erneut verstrichen einige Stunden. Schließlich fesselten die Palästinenser die neun Sportler aneinander und führten sie mit vorgehaltenen Maschinenpistolen aus der Unterkunft zu einem Bus, der sie zum Hubschrauberlandeplatz des Olympischen Dorfes brachte. Inzwischen war es Nacht geworden. In zwei Gruppen aufgeteilt, mussten die Sportler mit jeweils vier Geiselnehmern in den beiden Hubschraubern Platz nehmen. Shmuel Lalkin, Leiter der israelischen Delegation, der vor den Geiselnehmern hatte fliehen können, verfolgte die Szene aus einiger Entfernung.
„Unsere Hilflosigkeit weckte böse Erinnerungen in uns […] Die Israelis waren vollkommen schutzlos, wie Lämmer, die zur Schlachtbank geführt wurden.“
Wie der israelischeGeheimdienst die Olympia-Mörder von München jagte. 2. Aufl. München, S. 83
Die israelischen Sicherheitsexperten Zvi Zamir und Victor Cohen standen neben Lalkin.
„Es war totenstill. Da standen wir auf deutschem Boden und mussten hilflos mit ansehen, wie gefesselte Juden zu den Hubschraubern geführt wurden. […] Plötzlich hörte ich, wie Strauß Genscher auf Deutsch darauf aufmerksam machte, dass sie sich offenbar in der Zahl der Terroristen geirrt hatten. […] Seine Worte trafen mich wie ein Fausthieb. Mir wurde klar, dass sie bis zu diesem Anblick nicht gewusst hatten, mit wie vielen Terroristen sie es zu tun hatten, obwohl sie drinnen gewesen waren und mit ihnen gesprochen hatten. Plötzlich, als sie zu den Hubschraubern gingen, merkten sie, dass sie sich in der Zahl geirrt hatten. Das tat weh. Ich bemerkte, dass Strauß auch schockiert war. Der Ruf der Deutschen, in allen Dingen so genau zu sein, wurde dadurch schwer erschüttert. Ich war mir sicher, dass für jeden Terroristen fünf Scharfschützen bereitstanden. Sie hatten mir das Gefühl gegeben, dass sie einen maßgeschneiderten Plan besaßen und dass alles bedacht worden war, und dann …“
Wie der israelische Geheimdienst die Olympia-Mörder von München jagte. 2. Aufl. München, S. 83
Auf dem Flugfeld
Im Passagierraum des westlich stehenden Hubschraubers saßen Gutfreund, Schor, Slavin, Spitzer und Shapira. Sie waren aneinander gefesselt und dem weiteren Geschehen hilflos ausgeliefert. Springer, Halfin, Friedman und Berger befanden sich knapp 20 Meter entfernt im anderen Hubschrauber in derselben Situation. Bald nach der Landung in Fürstenfeldbruck fielen die ersten Schüsse. Die Schützen der Polizei hatten das Feuer auf die Geiselnehmer eröffnet. Diese erwiderten daraufhin das Feuer und nahmen den Tower unter Beschuss.
Die israelischen Sportler starben durch die Kugeln der Palästinenser ‒ einzig David Berger überlebte seine Schussverletzungen zunächst. Er blieb während der folgenden Ereignisse an seine toten Kameraden gefesselt und starb schließlich im brennenden östlichen Hubschrauber an einer Rauchvergiftung.
Alle Geiseln sind tot
Als die letzten Schüsse gefallen waren, rannten die israelischen Sicherheitsexperten Zvi Zamir und Victor Cohen zu den beiden Hubschraubern auf dem Rollfeld. Sie hofften, überlebende Geiseln zu finden. Stattdessen blickten sie auf blutüberströmte und verkohlte Leichen.
„Ich ging die Treppe hinunter und eilte zum ersten Hubschrauber hinüber. Um die Hubschrauber herum und darunter breiteten sich Blutlachen aus. Die Tür standen offen, und mir bot sich der entsetzliche Anblick von fünf Geiseln, die aneinander gebunden auf die hintere Bank gequetscht waren. Der Kopf eines jeden Mannes lag auf der Schulter seines Nachbarn. Da war keine Bewegung, kein Stöhnen und kein röchelnder Atemzug, und das Blut, das Blut floss aus dem Hubschrauber heraus und sammelte sich in Pfützen auf dem Asphalt. Es erschien mir nicht notwendig, zum zweiten Hubschrauber hinüberzugehen, zu dem, der ausgebrannt war. Wir waren geschockt. Um uns herum herrschte vollkommene Stille. Genscher und Strauß kamen aus den Bürogebäude heraus und eilten auf uns zu. Sie gaben uns die Hände und murmelten ein paar Wochen des Trostes.“
Wie der israelische Geheimdienst die Olympia-Mörder von München jagte. 2. Aufl. München, S. 91-92
Stimmen, die fehlen
Über 20 Stunden waren die israelischen Sportler den Geiselnehmern schutzlos ausgeliefert gewesen. Sie hatten den Tod von Moshe Weinberg und Yossef Romano miterleben und während der Verhandlungen in Todesangst ausharren müssen. Aneinander gefesselt und mit vorgehaltenen Waffen bedroht, saßen die neun Geiseln in den beiden Hubschraubern auf dem Flugplatz in Fürstenfeldbruck. Sie waren jeder Handlungsmöglichkeit beraubt und starben im Kugelhagel. Moshe Weinberg, Yossef Romano, Yossef Gutfreund, Kehat Schor, Amitzur Shapira, Yakov Springer, Mark Slavin, Andrei Spitzer, Eliezer Halfin, Ze’ev Friedman und David Berger waren tot. Der „Schwarze September“ hatte sie ermordet.
Es lässt sich nur erahnen, in welch schrecklicher Todesangst die neun Geiseln die letzten Stunden ihres Lebens verbringen mussten. Ihre Stimmen fehlen. Umso wichtiger ist es, an ihre brutale Ermordung im September 1972 zu erinnern und das Gedenken an die israelischen Sportler, Ehemänner, Familienväter und Söhne wach zu halten. Mögen sie nie vergessen sein.
Autorin und Autoren: Dominik Aufleger, Anna Greithanner, Robert Wolff